Wohn- und Geschäftshaus in der Stralsunder 47: Chronologie der Ereignisse

Mitten in der Sommerpause taucht eine Beschlussvorlage der Stadtverwaltung im Ratsinformationssystem auf, über die ziemlich kurzfristig entschieden werden soll: Es geht um einen Bauantrag für ein Wohn- und Geschäftshaus mit Tiefgarage der „Braun & Fehlhaber GbR“ in der Stralsunder Straße 47 auf dem Gelände der ehemaligen Kfz-Werkstatt.


Mit dem positiv und bauherrenfreundlich vorformuliertem Beschluss soll der Hauptausschuss das gemeindliche Einvernehmen zum Bauvorhaben erteilen. Damit wäre der Weg zur endgültigen Baugenehmigung geebnet. Da nach 2 Monaten das Einvernehmen automatisch als erteilt gilt, ist keine Zeit, die Angelegenheit durch die gesamte Bürgerschaft beraten und beschließen zu lassen.

Der Haupausschuss soll darüber befinden, ob sich das vier- bis fünfstöckige Gebäude in die vorhandene Bebauung einfügt. Offensichtlich nicht, wie die Bürgerinitiative Steinbeckervorstadt in ihrer Stellungnahme darlegt: Das Gebäude ist deutlich höher als die Nachbarbebauung, die bebaute Fläche ist riesig, das Wohn- und Geschäftshaus hätte ortsbildprägende Wirkung. All das sind eindeutige Ablehnungskriterien nach § 34 (1) BauGB.

Was ist das gemeindliche Einvernehmen überhaupt? Das im § 36 BauGB geregelte Einvernehmen stellt eine gesetzlich vorgesehene Mitwirkungshandlung der Gemeinde/Stadt im Verfahren der Erteilung einer Baugenehmigung dar. Im Kern geht es dabei um die Prüfung, ob sich das geplante Bauvorhaben nach § 34 BauGB nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. Fehlt das gemeindliche Einvernehmen bzw. ist es verweigert worden, so ist die Baugenehmigungsbehörde an diese Entscheidung dem Grunde nach gebunden, es sei denn, die Bauaufsichtsbehörde ersetzt es. (Quelle: juracademy.de)

Schwer wiegt dabei der Verstoß des Vorhabens gegen den gerade erst beschlossenen Masterplan für die Steinbeckervorstadt, in dem nach einem intensiven Prozess mit öffentlich geführter Diskussion endlich eine strategische Grundlage zur künftigen Entwicklung der Steinbeckervorstadt vorliegt.

Der vorgelegte Bauantrag missachtet gleich mehrere der im Masterplan festgelegten Ziele: Nicht nur, dass die Höhen geplanter Neubauten darin begrenzt wurden („Neubauten entlang der Stralsunder Straße sollen zwei- bis dreigeschossig, in Ausnahmefällen viergeschossig bemessen sein“) und dass das neue teilweise fünfstöckige Gebäude mit einer Höhe von über 18 Metern höher wäre als alles, was in der Stralsunder Straße je gebaut wurde, auch die Anzahl der Wohnungen und die Planung der Tiefgarage in einem Moorgebiet, das für autofreies Wohnen (Zielaussage B 2.3) vorgesehen war, sind ein Schlag ins Gesicht all derer, die sich an der Entwicklung des Masterplanes beteiligt haben und nun sehen, dass dieser eigentlich Makulatur ist: Eine rechtliche Wirkung geht von ihm nicht aus, die entsteht erst mit dem Aufstellungsbeschluss eines Bebauungsplanes.

Die Kunde vom geplanten Abriss der alten Gaststätte „Flora“ brachte das Fass zum Überlaufen: Am Donnerstag, dem 30. Juli 2020, rückte ein Bagger an und wurde etwas versteckt hinter Containern auf dem Werkstattgelände geparkt. Nur durch eine beherzte Aktion am Freitagmorgen konnte der Abriss verhindert werden: Eine Mahnwache der BI und Banner in der Stralsunder Straße sorgten für mediale Präsenz und für einen sofortigen Ortstermin mit der Baudezernentin Jeannette von Busse, die zusicherte, dass nichts abgerissen würde.

Bereits einen Monat zuvor, am 30. Juni 2020, hat die Altstadtinitiative einen Antrag auf Unterschutzstellung des gesamten Gebäudeensembles in der Stralsunder Straße 47/48 gestellt. Da das Flurstück 42/2 im Sanierungsgebiet liegt, müsste ohnehin jeder Abriss darauf befindlicher Gebäude genehmigt werden. Darüberhinaus widerspräche auch der Abriss der anderen Gebäude dem Masterplan, der als Zielaussage C 1.3 „Erhalt vor Abbruch: Sicherung und Sanierung vom Verfall bedrohter Altbausubstanz“ definiert. Inwieweit sich die Investoren an derartige Vorgaben halten, sei mal dahingestellt. Dass der Bagger am Wochenende wieder abgeholt wurde, darf als Eingeständnis der vereitelten Abrisspläne gewertet werden.

Als Folge der Ereignisse lud die BI den Oberbürgermeister Stefan Fassbinder zu einem Gespräch ein. Am Abend des 4. August nahm er in kleiner Runde Stellung und erklärte, dass die Beschlussvorlage zum gemeindlichen Einvernehmen zurückgestellt wird.

Die lokalen Medien haben das Thema gern aufgegriffen: radio 98eins bringt einen dreißigminütigen Beitrag, die Ostsee-Zeitung berichtet am 1. August in einem ganzseitigen Artikel über das Bauvorhaben und die Argumente der BI. Auch die Investoren kommen darin zu Wort und stellen klar, dass keinesfalls hochpreisige, sondern „bezahlbare“ Wohnungen entstehen sollen. Mit einem 7 x 7 Meter großen Spielplatz, einer Ladesteckdose für E-Autos und einem begrünten Dach bekommt das Ganze sogar noch einen fadenscheinigen ökologischen Anstrich. Zur Begründung des geplanten Abrisses beruft sich Sebastian Braun auf die vormaligen Pächter, die „Teile des Objektes aufgrund einer Gefährdung von Leib und Leben gar nicht mehr betreten hätten“. (OZ Greifswald, 01.08.2020, Seite 11)

Erwartungsgemäß und im Gegensatz zu SPD und Grünen begrüßt die CDU die Pläne und „hofft, dass nicht wieder alles zerredet wird und es ausnahmsweise zu keiner weiteren Verzögerung durch rot-rot-grüne Verhinderer kommt.“ (Axel Hochschild, OZ Greifswald, 01.08.2020, Seite 11)

Am 7. August titelt die OZ „OB schickt Wohnhauspläne in die Warteschleife“ und macht darin die Rückstellung der Beschlussvorlage publik. Am 8. August erscheint ein weiterer Artikel in der OZ-Lokalausgabe, der sich mit fehlendem Wohnraum und Einwohnerverlust beschäftigt. Hierin kommt der Greifswalder Makler Sven Hasl zu Wort: Er übt „Kritik an Kommunalpolitikern der Grünen, Linken, SPD und Tierschutzpartei, die in der vergangenen Woche gegen das Neubauprojekt des Cheplapharm-Chefs Sebastian Braun in der Stralsunder Straße protestiert hatten. Dass hier ein innovatives Immobilienprojekt eines seriösen Investors, der in Greifswald viel Gewerbesteuer zahle, verhindert werde, sei einfach nur traurig.“ (OZ Greifswald, 06.08.2020, Seite 11)

Die schnelle Eskalation der Angelegenheit zeigt, wie wichtig eine außerparlamentarische Initiative wie die „BI Steinbeckervorstadt“ ist: Die „Flora“ wäre ohne sie vielleicht längst abgerissen und der Antrag für ein monumentales Bauvorhaben im Hauptausschuss durchgewinkt worden.

Bleibt wachsam!


Quellen:

https://greifswald.sitzung-mv.de/public/vo020?VOLFDNR=1001152
http://altstadtinitiative-greifswald.de (Torsten Rütz)
https://www.geoportal-mv.de/gaia/gaia.php

Nachtrag 14.08.2020

Am heutigen Tag ist der OZ zu entnehmen, dass der Beschluss zum Masterplan möglicherweise ungültig ist und die Abstimmung wiederholt werden muss. Ein Mitglied der CDU-Fraktion sei Besitzer eines Grundstückes in der Steinbeckervorstadt und hätte demnach ein Mitwirkungsverbot nach § 24 der Kommunalverfassung für das Land Mecklenburg-Vorpommern.

Das Rechtsamt der Hansestadt prüft den Vorgang, die Auswirkungen auf den Masterplan und laufende Bauanträge sind noch unklar.

Nachtrag 01.09.2020

Sowohl die Beschlussfassung zum Masterplan als auch zur Vorkaufsrechtssatzung mussten in der Sitzung der Bürgerschaft am 31.08.2020 wiederholt werden. Beide Beschlüsse waren unwirksam, da ein Mitglied der Bürgerschaft trotzt des Mitwirkungsverbotes gemäß § 24 Abs. 1 KV M-V mitgestimmt hatte.

Frau Rex erklärt sich gemäß § 24 KV M-V vom Mitwirkungsverbot betroffen. Sie nimmt dementsprechend nicht an der Diskussion und der Abstimmung teil und begibt sich in den Zuschauerbereich.

Quelle: https://greifswald.sitzung-mv.de/public/to010?SILFDNR=1000140